Mit therapeutischem Humor frühe Beschämungen heilen
von Dr. Michael Titze
Taschenbuch: 1368 Seiten; Verlag: Kösel-Verlag; Auflage: 7 (2012);
ISBN-13: 978-3-466-30390-8; 21,95 EUR
Das Buch sollte den Untertitel als Titel haben, damit man auf den Punkt weiß, worum es geht. Dieses Buch begeistert mich und erfreut mich in seiner gerdaezu atemberaubenden Stimmigkeit. Nur wenige Fachbücher fand ich bisher mit dieser Qualität! Zahlreiche Beispiele in dem Buch habe ich selbst haargenau so erlebt und in meiner psychotherapeutischen Arbeit sehe ich viele Menschen mit solch kränkenden Erlebnissen: BESCHÄMUNG heißt dieses fürchterliche Gefühl. Und darum geht es in diesem Buch wirklich:
Sehr viele Menschen sind leider von jüngsten Jahren an in ihrem Leben beschämt worden. Manche sind dadurch so stark verletzt worden, dass ihr Lebensmut beschädigt wurde und sie therapeutische Begleitung brauchen, um sich aus dem Gefängnis der Beschämungen und den Folgen der Beschämungen wieder zu befreien.
Beschämungen beruhen grundsätzlich darauf, dass die Würde des Menschen sowie der Selbstwert und die Selbstachtung angegriffen wird. Mehr finden Sie dazu in meinem Beitrag über Scham und Beschämung hier. — Nun weiter zur Rezension des Buches:
Verschiedentlich habe ich bereits betont, dass ich Bücher zu psychosozialen oder psychotherapeutischen Themen nur dann empfehle, wenn ich deren Inhalte an meinen eigenen biografischen Erfahrungen oder denen meiner Klienten auf Stimmigkeit geprüft habe und erkenne, dass auch die „psychodynamische Logik” stimmt. In diesem Buch von Dr. Michael Titze sind diese beiden Stimmigkeiten in herausragender Weise vorhanden!
Wie ein Roter Faden zieht sich die Interpretation der Fabel von Pinocchio durch das Buch. Herr Titze schreibt dazu:
„Wenn Menschen »irgendwie komisch« sind, wurden sie als Kinder oder Jugendliche häufig von anderen verspottet und verlacht. Diese beschämende Erfahrung führt oft zu einer Selbstwertstörung, der die Betroffenen unlebendig erstarren lässt und sie hölzern macht — sie leiden unter dem Pinocchio-Komplex.”
Im gesamten ersten Teil des Buches, das sich bis zu Kapitel 11 erstreckt, erfährt der Leser, in welch vielfältiger Weise Beschämungen erfolgen können und auch, welche Folgen die Beschämten oft zu erleiden haben.
Ich war erstaunt, dass sogar Psychosen ausgelöst werden können, weil die Belastung durch die erlittenen Verletzungen zu groß wurden und die eigenen Kräfte zu deren Bewältigung zu gering waren. Die dargestellten psychodynamischen Zusammenhänge und Wirkungsmechanismen sind auch für den engagierten Laien verständlich und nachvollziehbar beschrieben.
Wenn ich aber zurück denke an meine eigenen Psychotherapie-Erlebnisse als Klient oder an meine psychotherapeutische Ausbildung oder an die zahlreichen psychotherapeutischen Fachbücher, dann finde ich da kaum etwas über das Thema Beschämung. In mir wurde die Fantasie bzw. der Verdacht wach, dass womöglich sogar Psychotherapeuten das heikle Thema Scham / Beschämung vermeiden, weil auch sie das Gefühl des Beschämt-Werden genau so unangenehm finden und die Auseinandersetzung damit genau so gerne vermeiden, wie es auch Klienten tun.
Ganz besonders wertvoll empfand ich auf Seite 214 den zunächst unscheinbar erscheinenden Hinweis, dass ein Therapeut im Bewusstsein handeln muss, dass sein Klient bereits durch Beschämungen „vorgeschädigt” ist und dass die Tatsache, dass er nun Therapie in Anspruch nehmen muss, für ihn ebenfalls beschämend sein kann. Ich füge hinzu, dass schon die (vom Klienten falsch verstandene) Diagnostik zur zusätzlichen Beschämung beitragen kann, weil es dem Klienten so erscheint, dass ihm ein Stempel aufgedrückt wird, der da z.B. heißt: F32.2 schwere Depression ohne psychotische Symptome oder F90.1 hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ADHS).
Beim Klienten darf ein derartiges beschämendes Missverständnis nicht entstehen. Der Therapeut hat vor allem Anderen uneingeschränkt die Leistung des Klienten zu würdigen und anzuerkennen, die darin besteht, dass dieser ganz spezielle Verhaltens- und Denkmuster aufgebaut hat, mit denen er bisher versucht hat, sein Leiden und seine innere Not zu lindern!!! Diese Verhaltens- und Denkmuster des Klienten sind nicht in erster Linie Ausdruck seiner „Störung”, sondern sie sind Ausdruck seiner wahren Stärke und Creativität. Und dies gilt auch dann, wenn eigentlich offensichtlich ist, dass diese Verhaltens- und Denkmuster letztlich nicht geholfen haben, sodass nun eine therapeutische Begleitung erforderlich ist.
Schon alleine für diesen Hinweis bin ich Herrn Dr. Titze außerordentlich dankbar. In dieser Klarheit habe ich das noch nirgendwo formuliert gefunden. Und das ist nicht die einzige Stelle im Buch, die mich geradezu elektrisiert hat. Wegen dieser vielen punktuellen Schätze im Buch und wegen der unglaublich präzisen Darstellung der psychodynamischen Zusammenhänge im Entstehen von Beschämung und den psychischen Folgen möchte ich dieses Buch allen psychotherapeutisch arbeitenden Menschen dringend empfehlen. Es sollte zu den Standard-Fachbüchern gehören, sozuasgen ein „Must-Read” mit dem Ergebnis des „Must-Apply” in der psychotherapeutischen Praxis.
Der weitere Teil des Buches ab Kapitel 9 bzw. 10 beinhaltet dann, warum Humor die stärkste Waffe gegen Beschämung sein kann und wie man Beschämung abwehren kann, durch verschiedene Arten von Humor. Leider ist Humor in der Therapie immer noch nicht so verbreitet und anerkannt, wie dies wünschenswert wäre. Denn ich habe Humor schon oft gegen eigene innere Konflikte genutzt, aber auch in der Beratung mit Klienten erfolgreich eingesetzt. Humor schafft die Distanz zum Leid, die nötig ist, eine andere Perspektive einzunehmen und aus dieser Perspektive sich dem Leid entziehen zu können.
Der Spielraum für Humor ist eigentlich unendlich groß und wird von der Creativität der Betroffenen selbst geschaffen. Einige besonders oft angewendete therapeutische Humor-Methoden stellt Herr Titze in seinem Buch vor und beschreibt auch hier wieder anschaulich mit Beispielen von Klientenerlebnissen die psychischen Wirkungsmechanismen der Humor-Therapie.
Auf Seite 283 zeigt Herr Titze, wie auch der Therapeut seinen eigenen Humor einbringen muss, denn es reicht nicht, nur den Klienten zu einem humorvollen Verhalten anzuleiten! Auch dieser Hinweis hat mich sehr gefreut!
Dieses Buch führt über den harmlos klingenden Titel über mehr als 250 Seiten in ein tiefes Verständnis der psychischen Zusammenhänge und geht dann allmählich immer mehr dazu über, durch konkrete Beschreibungen von paradoxen und humorvollen Übungen zur Selbsthilfe anzuleiten. Und der Anhang ist gefüllt mit solchen Übungen.
Jedoch die meisten Kapitel stellen die Zusammenhänge unter den fachlichen Gesichtspunkten des erfahrenen Psychotherapeuten tiefenpsychologischer Ausrichtung dar (was das Lesen für den interessierten Laien ein wenig erschweren mag). Um so überraschender mag es da für die tiefenpsychologisch arbeitenden Therapeuten sein, wenn Herr Dr. Titze als „Tiefenpsychologe und Analytiker” mit seiner Methode des therapeutischen Humors durchaus verhaltenstherapeutische Landschaften betritt.
Es ist schon witzig, dass ich meinen Artikel über Scham und Beschämung fast fertig gestellt hatte, als ich dann das Buch erhielt. Fast alles, was ich in meinem o.g. Artikel schrieb, findet sich in ausführlicher erklärter Form auch in dem Buch wieder. Dazu zahlreiche, leicht verständliche und nachvollziehbare Beispiele aus dem Leben von Klienten, die das Buch besonders lebendig machen. Dieses Buch ist für mich eine Freude und Bereicherung! Meine besten Empfehlungen!!!
Anmerkung: Mein neu entwickeltes Konzept der „Würdezentrierten Kommunikation” konnte ich mit dem Wissen aus diesem Buch erheblich verfeinern, denn meine Erkenntnis, dass das „Recht auf menschliche Unzulänglichkeit” zu den grundsätzlichen Menschenrechten gehört, wurde durch dieses Buch angeregt. Mittlerweile biete ich auch einen Kurs (zur Wissensvermittlung) und einen Workshop (zum Ausprobieren und Umsetzen in Alltagssituationen) hierzu an.
Aus dem Rückseitentext des Buchs:
Wenn Menschen »irgendwie komisch« sind, wurden sie als Kinder oder Jugendliche häufig von anderen verspottet und verlacht. Diese beschämende Erfahrung führt oft zu einer Selbstwertstörung, der die Betroffenen unlebendig erstarren lässt und sie hölzern macht — sie leiden unter dem Pinocchio-Komplex.
In den letzten Jahren ist in der Psychotherapie ein innovativer Ansatz entstanden, diese schamgebundene Erstarrung zu lösen: Mit Hilfe des Therapeutischen Humors wird der »Mut zur Lächerlichkeit« eingeübt, der die gebundene Lebenskraft und die verschüttete Lebensfreude wieder befreien kann.
Dr. Michael Titze, geboren 1947, ist Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Der international bekannte Autor ist Gründungsvorsitzender von HumorCare Deutschland e.V. und gilt als Pionier des Therapeutischen Humors. Mehr dazu unter www.michael-titze.de