Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann
von Marie-France Hirigoyen (Autor), Michael Marx (Übersetzer)
Taschenbuch: 240 Seiten; Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (1. 09. 2002);
ISBN-13: 978-3423362887; 9,90 EUR
Die Autorin ist eine erfahrene Psychotherapeutin und beschreibt unter Schilderung zahlreicher Fallbeispiele, wie Menschen andere Menschen durch psychische Gewalt zerstören. Bei der Betrachtung der zugrunde liegenden psychischen Problematik und der Wirkungsmechanismen vertritt sie die Ansicht, dass das Verhalten des Agressors klar als Täter zu werten ist, beschreibt sein Verhalten als „pervers” und sieht die Betroffenen als Opfer.
Die Autorin meint, dass der Therapeut auch in der Therapie Stellung und Partei beziehen und sich an die Seite des Opfers stellen sollte. Denn nicht jedes Opfer muss eine psychische Problematik haben und so einen eigenen Anteil einbringen, um zum Opfer zu werden. Der Agressor / Täter hingegen hat dagegen ganz gewiss eine psychische Problematik, oft auch in Form einer narzisstischen Auffälligkeit. Besonders tragisch ist, dass die Gewalt in Lebenssituationen geschieht, bei denen das Opfer in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter steht.
Dies kann z.B. als Kind von den Eltern, als Arbeitnehmer von der Akzeptanz am Arbeitsplatz oder in einem verpflichtenden Bindungsverhältnis z.B. als Ehepartner / Elternteil erlebt werden und das Opfer kann sich daher nicht leicht abgrenzen oder trennen.
In fast allen Beispielen des Buchs kommt der Agressor – ohne Zutun seines Opfers – zu der Ansicht, dass das Opfer unerwünscht ist und am besten gar nicht mehr existieren sollte. Mord scheidet aus strafrechtlichen Gründen aus und Trennung kann zu Verlust an Ansehen oder Geld oder gar zu sozialer Ächtung führen.
Die Frustration und die Wut des Agressors, sein Opfer nicht ohne eigenen Schaden los werden zu können, lässt ihn zu anderen Mitteln greifen; Mittel, bei deren Anwendung sein Ansehen gewahrt bleibt und er unschuldig da steht. Psychische Gewalt hinterlässt ihre Zerstörung in Geist und Seele des Opfers und ist nicht sichtbar und kaum nachweisbar, wie die sogenannte „weiße Folter”
In einigen von mir empfohlenen Büchern ist immer die Rede davon, dass Paare zueinander finden, wie der Schlüssel zum Schloss: Ein Mensch mit einer abhängigen Persönlichkeitsstruktur neigt dazu, sich mit einem Partner mit narzisstischer Struktur zu verbinden. Der Abhängige verspricht sich davon den Vorteil, seine wenig entwickelten Persönlichkeitsanteile nicht selbst entwickeln zu müssen, sondern durch den Partner ergänzen oder ersetzen zu lassen. Der narzisstische Partner missbraucht aber seine vordergründig attraktiv und vorteilhaft wirkende Stärke dazu, seinen Partner nach Belieben zu beherrschen und zu unterdrücken, um seinerseits seine eigene Schwächen auf Kosten des Partners zu kompensieren.
Im Gegensatz dazu geht es in dem hier vorgestellten Buch darum, dass ein krankhafter Agressor einen an sich gesunden Menschen psychisch schädigt oder sogar zerstört.
Die Stärke des Buchs liegt darin, die verschiedensten Spielarten der Gewalt und der psychischen Machtausübung zu beschreiben und so die Dinge beim Namen zu nennen. Denn die Opfer solcher destruktiver Beziehungen — gleich ob in der Kind-Elternbeziehung, in der Partnerschaft, am Arbeitsplatz, im Familien- oder Verwandschaftskreis — neigen dazu, sowohl den Täter als auch seine Machenschaften zu beschönigen und zu verharmlosen, statt dem perfiden und zerstörerischen Treiben ein Ende zu setzen. Die Opfer geraten in Verwirrung, zweifeln an sich selbst und ihrer eigenen Wahrnehmung und können die Realität nicht mehr sehen. Auch diese verhängnisvollen Mechanismen beschreibt die Autorin sehr anschaulich.
Manch einer erwartet nun auch hilfreiche Tipps, Anregungen oder gar „Rezepte”, wie man sich aus solchen destruktiven Beziehungen rettet. Ich meine, das kann ein Buch nicht leisten, weil diese Dinge in einer Therapie erarbeitet und geklärt werden müssen. Nur so kann das Opfer die nötige Ich-Stärke und die nötige Klarheit gewinnen, um sich abgrenzen zu können, für sich selbst zu sorgen und sich zu befreien bzw. zu trennen.